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Der Scheinriese oder: Wenn Hindernisse am Horizont auftauchen

Ich möchte dir gerne die Geschichte vom Scheinriesen erzählen.

Als mein Sohn etwa 5 Jahre alt war, hat er sich auf den Weg gemacht in den Kindergarten. Kurz nachdem ich ihn verabschiedet hatte, ist er wieder vor der Haustüre aufgetaucht. Er war sehr verzweifelt und ganz ausser sich.


Was denn passiert sei, wollte ich wissen?


Da hat er mir berichtet, dass es unmöglich sei, heute in den Kindergarten zu kommen. Die Strasse unterhalb unseres Hauses sei komplett versperrt mit einer grossen Eiche, die umgefallen sei und nun quer über der ganzen Strasse liege.


Es hatte in der Nacht zuvor tatsächlich so stark gestürmt, dass einige Bäume dem Unwetter zum Opfer gefallen waren. Es sei absolut unmöglich, daran vorbeizukommen. Er könne das schon von Weitem sehen. Die Eiche sei riesig, mit einem immensen Stamm, und die ganze Baumkrone versperre sogar den Weg über den Gehsteig. Ein Ausweichen sei nicht möglich.

Mein Sohn war verständlicherweise sehr durcheinander und aufgewühlt wegen diesem scheinbar unüberwindbaren Hindernis. Er bat mich, im Kindergarten anzurufen und mitzuteilen, dass er deswegen heute nicht kommen könne. Weil kein Weg an der gefallenen Eiche vorbeiführe.


Da habe ich ihn gefragt, ob er denn auch bis ganz zur Eiche hingegangen sei? Oder ob er nur aus der Ferne geguckt habe, um dann die Situation als ausweglos zu beurteilen, sein Vorhaben aufzugeben, und wieder nach Hause zurückzukehren?


In diesem Moment hat er mich ganz erstaunt angeschaut und genickt. Ja, er habe nur aus der Ferne geguckt. Es sei so ein riesen Baum, das sehe er aus Distanz, und er wisse ganz sicher, dass es da kein Durchkommen gebe. Es sei vergeblich, auch nur einen Versuch zu wagen. Die Eiche liege komplett quer auf der Strasse, und es bleibe jetzt nichts anderes, als zu Hause zu bleiben und zu warten, bis der Durchgang geräumt werde.


Und so habe ich ihm die Geschichte vom Scheinriesen erzählt. Der Scheinriese sieht aus Entfernung immer riesengross aus. Furchteinflössend, gigantisch und absolut unbezwingbar. Wenn man aber seinen ganzen Mut zusammen nimmt, und sich etwas näher an den Riesen herangetraut, erkennt man, dass auch er ein Wesen aus Fleisch und Blut ist, das sich freut, mit Menschenkindern zu sprechen und sich auszutauschen.


Und so haben wir uns dann gemeinsam aufgemacht, um diese Rieseneiche einmal aus der Nähe zu betrachten. Dabei ist es etwas ganz Wundersames passiert:


Je näher wir gekommen sind, umso mehr hat sich das massive scheinbar unüberwindbare Hindernis als ein durchlässiges Flechtwerk aus Ästen, abgebrochenen Zweigen, Blättern und Stämmen entpuppt. Überall schien Licht hindurch und mach konnte stellenweise sogar auf die Strasse hinter der Eiche sehen. Auf den Weg zum Kindergarten.


Mein Sohn hat zu strahlen begonnen, er wurde von Unternehmungslust gepackt, und gemeinsam haben wir begonnen, die Eiche zu erklettern, und uns einen Weg über sie hinweg zu bahnen.


Schon nach kurzer Zeit hatte er das Hindernis überwunden, und landete dahinter auf der freien Strasse. Wie stolz er war, sich einen Weg durch das Gestrüpp gebahnt zu haben, und wieviel hatte er an diesem Tag zu erzählen im Kindergarten!


Heute ist mein Sohn erwachsen und studiert. Geblieben ist uns das Stichwort „Scheinriese“, wenn Hindernisse am Horizont auftauchen, die auf den ersten Blick unüberwindbar gross und mächtig erscheinen.


Wir schauen uns dann jeweils kurz an, lächeln, und wissen: auch diesen Riesen werden wir schaffen. Wir brauchen ihn nur mit etwas Gelassenheit auf uns zukommen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass sich aus der Nähe betrachtet der Lösungsweg von alleine vor unseren Füssen ausbreiten wird.

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